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AUS ALLERBESTEM HAUSE

Ein Rückblick auf unsere Online-Debatte zum Thema „Freiheit versus Sicherheit: Wie weit darf oder muss Pandemiebekämpfung gehen?

Haus Rissen Freiheit versus SicherheitIm April 2021 trafen nahezu 40 Persönlichkeiten aus unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen zusammen, um über die aktuelle politische Situation zu diskutieren. Das HAUS RISSEN hatte zusammen mit dem Club of Hamburg dazu eingeladen mit prominenten Vertretern aus Journalismus, Jugendarbeit, Gesellschaftstheorie und Wertephilosophie über die Frage zu streiten, ob sich Freiheit und Sicherheit in der aktuellen Lage antagonistisch gegenüberstehen – und sich die Strategien der Pandemiebekämpfung nicht auch hinterfragen lassen dürfen.

An diesem Abend durften sie das. Der Ökonom Thomas Staubhaar argumentierte, dass sich eine einhundertprozentige Sicherheit nicht herstellen lasse, weswegen eine gesamtgesellschaftliche Verengung auf einen Gefahrenaspekt zu mehr Kollateralschäden führe, als mit bestem humanitären Gewissen beabsichtigt. Pointiert schickte er nach: „Wir halten unsere Körper immer länger am Leben. Wir werden alle 100!“, da sei es doch eine logische Schlussfolge, dass Krankheit ein zunehmendes Kontinuum und nicht gänzlich zu verhindern sei. Außerdem sei es fahrlässig, die Pandemiebekämpfung zu parametrisieren, also an Inzidenz-Zahlen festzumachen und somit die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge des Problems zu vernachlässigen. Man könne dynamisches Weltgeschehen nicht wie ein Modell behandeln, bei dem man es lediglich mit berechenbaren Variablen zu tun habe, argumentierte Straubhaar ganz im Sinne einer breiten sozialphilosophischen Tradition von Horkheimer über Foucault bis Taylor.

Ralf Macke, seit Jahrzehnten eng mit der Jugendkultur verzahnt und aktiv als Stadtjugendpfleger, machte auf die Anfrage des Gastgebers Dr. Spies deutlich: Die Jugend sei noch nicht gebrochen. Von einer verlorenen Generation zu sprechen, sei unangebracht, insbesondere in Hinblick auf zurückliegende gesellschaftliche Katastrophen. Gleichzeitig schickte Macke nach: Ewig kann die Dauerschließung gesellschaftlichen Lebens aber nicht weitergehen. Es müssten jetzt Öffnungskonzepte erprobt werden, um wieder Orientierung und Perspektiven zu ermöglichen.

Auf Philipp Hübl war Verlass: Der eloquente Philosoph war stets in der Lage direkte Bezüge zu wissenschaftlichen Erklärungsmodellen herzustellen, klärte das Plenum über moralische Grundströmungen auf, unterschied zwischen Kant’s Pflichtethik und dem Mill’schen Utilitarismus, grenzte diese voneinander ab - und bezog dies sehr greifbar auf den gegenwärtigen Diskurs.

Die NDR-Journalistin Anette van Koeverden lieferte wertvolle Perspektiven aus der täglichen Arbeit mit der Bevölkerung, bewies Sendungsbewusstsein und unterstrich noch einmal, dass auch öffentlich-rechtliche Medien durchaus regierungskritisch berichten würden, die reale Gesundheitsbedrohung durch die Pandemie aber gleichzeitig nicht vernachlässigt werden dürfe. Gleichzeitig zeigte sie wohlwollendes Verständnis für einen zunehmenden „Lockdown Blues“ bei den Menschen.

Große Einigkeit bestand über den Punkt, dass man den Bürgerinnen und Bürgern politisch wieder mehr Eigenverantwortung und Vertrauen entgegenbringen müsse. Jede neue Regel liefere auch Anlass zu Trotz und Widerstand, zumal sich jetzt schon deutlich zeige, dass sich die Regeln rein polizeilich gar nicht vollumfassend kontrollieren ließen. Würde man der Bevölkerung wieder mehr Eigenverantwortung zutrauen, könnte dies auch die Akzeptanz der Pandemiebekämpfung in einer gesellschaftlichen Breite steigern.

Eine vorgeschaltete Umfrage unter den Teilnehmern machte deutlich, dass rund die Hälfte der versammelten Bürgerinnen und Bürger eine Verlängerung der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung befürwortete, während der andere Teil auf Lockerungen pochte oder im Rahmen eines Strategiewechsels andere Maßnahmen gutheißen würde. Auch bei der Frage, ob sich die Situation weiter anspannen würde, war die Meinung geteilt: Nur knapp die Hälfte der Anwesenden votierte für eine höhere Wahrscheinlichkeit baldiger Entspannung.

Auf die Frage nach den Lehren und Erkenntnissen aus der Pandemie unterstrichen die Gäste etwa, dass ein eingeschränktes Konsumverhalten durchaus positive Aspekte mit sich brächte, zumal ökologische und soziale Problematiken ohnehin nach einer Kehrtwende unserer Konsumgesellschaft schreien würden. Ralf Macke unterstrich zudem, dass man der „Fridays for future“-Bewegung stets Surrealismus in Bezug auf eine Regulation von Flugreisen vorgeworfen hätte – die Praxis habe nun bewiesen, dass eine Regierung sehr wohl regulieren kann, wenn sie denn will. Thomas Straubhaar warb unterdessen für ein bedingungsloses Grundeinkommen, denn die Dringlichkeit für ein solches Wohlfahrtsprojekt sei gegebener denn je.

Das Publikum beteiligte sich rege an der Diskussion und nach Ende des offiziellen Teils blieben ein Großteil der Zuhörer und auch die eingeladenen Experten noch lange im Online-Panel, um leidenschaftlich weiter zu diskutieren. Es kam zu vielfältigen Äußerungen unterschiedlichster Standpunkte, etwa von einem Oberst der Bundeswehr, einem ehemaligen Sparkassendirektor, einer Hochschuldozentin und einem ehemaligen ARD-Intendanten.

Eine Teilnehmerin bringt den Abend im Nachgang auf den Punkt: „Ich danke herzlich, dass ich teilnehmen durfte! Die Diskussion war in ihrer interdisziplinären Vielseitigkeit eine echte Bereicherung. Insbesondere die Frage nach den Lehren und Erkenntnissen sowie speziell den erfreulichen Auswirkungen dieser herausfordernden Zeit sollte viel öfter gestellt werden. Daraus ließen sich Mut machende Perspektiven entwickeln, die Eingang in den allgemeinen Diskurs finden und so auch handlungsleitend werden könnten.“

In der Hegel’schen Dialektik gibt es die These, die auf die Antithese trifft und in der gemeinsamen Metamorphose zur Synthese diffundiert. In diesem Sinne hoffen wir, dass unsere Diskussionsveranstaltung zu vielen Denkanstößen, neuen Perspektiven und zu einem besseren Verständnis für die Standpunkte anderer Meinungslager geführt hat.

Für den Erkenntnisgewinn, den lebhaften Diskurs und die basisdemokratische Atmosphäre bedanken uns bei allen Gästen und Mitwirkenden!

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