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Eine Nachbetrachtung zur Abendveranstaltung

Earlybirds

Am 27. Juni 2022 diskutierten der Islam– und Politikwissenschaftler Jannis Jost (Institut für Sicherheitspolitik der Universität Kiel) und ein/e Vertreter/in des Landesamtes für Verfassungsschutz (welche/r aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt wird) im Rahmen einer Paneldebatte über Dschihadismus in Deutschland.

Zu Beginn der Abendveranstaltung begrüßte Verena Fritsche, Geschäftsführerin von HAUS RISSEN, und stellte dem Publikum das Haus vor. Die Moderation des Abends übernahm Fabian Knörzer, welcher als Referent für Sicherheitspolitik im HAUS RISSEN die Themen Dschihadismus und Terrorismus in Seminaren der politischen Bildung für Bundeswehrangehörige behandelt.

Dschihadismus in Deutschland

Vor Beginn der Debatte erläuterte Herr Knörzer kurz die Bedeutung des Begriffes Dschihadismus (islamistischer Terrorismus) sowie dessen Ausmaße in Deutschland.

Gefahr für die öffentliche Sicherheit?

In der Debatte diskutierten die beiden Panelisten, unter der Moderation von Herrn Knörzer, welche Gefahr von deutschen Dschihadisten für die öffentliche Sicherheit ausgeht. Der Fokus lag hierbei auf den ungefähr 1.050 Männern und Frauen, welche im Zeitraum 2011 – 2017 aus Deutschland nach Syrien und in den Irak ausreisten, um sich dschihadistischen Gruppen wie z.B. dem sogenannten Islamischen Staat (IS) anzuschließen.

Seit der territorialen Niederlage des IS im Jahr 2019 sind inzwischen an die 350 von ihnen nach Deutschland zurückgekehrt. Diese sogenannten IS-Rückkehrer stellen die deutschen Sicherheitsbehörden und die deutsche Gesellschaft vor eine große Herausforderung. Sicherheitsbehörden und Experten aus der Forschung schätzen das Risiko für eher gering ein, dass einige dieser Rückkehrer in Deutschland terroristische Anschläge verüben. Mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden kann es jedoch nicht, weshalb ein gewisses Restrisiko bleibt.

Auch in Hamburg stellen die IS-Rückkehrer die Landesbehörden vor Herausforderungen. Von 86 Ausreisenden sind – dem Landesamt für Verfassungsschutz zu Folge – bereits „weit über ein Drittel zurückgekehrt“. (Verfassungsschutzbericht 2021. S. 34, 2. Potenziale)

Vom „Normalbürger“ zum Terroristen?

Intensiv diskutiert wurde über die Gründe, aus denen sich Menschen in Deutschland für den radikalen Islam begeistern lassen, von der Betätigung in salafistischen Gruppen bis hin zum Kampf für das Kalifat im Nahen Osten. Einigkeit bestand unter den Panelisten, dass jede Radikalisierung individuell sei, da hier der jeweilige Lebensweg eines jeden Ausreisenden zum Tragen komme.

Für die Prävention und die Deradikalisierung lassen sich zwar gewisse Gemeinsamkeiten und Muster erkennen, wie die Suche nach einem Sinn im eigenen Leben oder der Wunsch nach Anerkennung und Status. Eine allgemein gültige „Blaupause“ für die Radikalisierung vom „Normalbürger“ zum islamistischen Terroristen lässt sich hieraus jedoch nicht ableiten. Diese Tatsache macht die Prävention und frühzeitige Erkennung von islamistischem Extremismus zu einer großen Herausforderung für Sicherheitsbehörden, die Forschung und die Gesellschaft.

Herausforderungen in der Prävention und Bekämpfung

Unter Beteiligung des Publikums wurde zudem sehr lebhaft diskutiert, was bei der Prävention und Deradikalisierung von Dschihadismus in Deutschland zukünftig verbessert werden könne. Hierbei wurde insbesondere auf die Bedeutung muslimischer Gemeinden bei der Erkennung und Vorbeugung der Radikalisierung von insbesondere jungen Muslimen debattiert.

Was können diese Gemeinden leisten? Sind sie in Zeiten von zunehmender Onlineradikalisierung und Einzeltätern (sogenannten „lone wolfs“) überhaupt noch der richtige Ansprechpartner für Jugendliche und junge Erwachsene? Welche Rolle spielen ausländische Imame in den Moscheen, welche häufig wenig mit unserem Land, unserer Kultur und unseren Werten und Normen vertraut sind?

Was kann unsere Gesellschaft als Ganzes leisten, um dieser Herausforderung gemeinsam zu begegnen?

Sollte die Gefahrenlage neu bewertet und angepasst werden?

Ebenfalls Gegenstand der Diskussion waren die seit dem 11. September 2001 verschärften staatlichen Sicherheitsmaßnahmen zur Verhinderung von Terroranschlägen im In- und Ausland. Sind diese noch zeitgemäß oder ist es an der Zeit, diese an die neue Gefahrenlage anzupassen? Besonders im Fokus standen hier die Sicherheitsvorschriften im internationalen Luftreiseverkehr.

Die ungeklärte Frage der europäischen IS-Mitglieder im Nahen Osten

Zum Abschluss wurde die Frage debattiert, wie Deutschland und andere europäische Staaten mit ihren im Nahen Osten verbliebenen IS-Ausreisenden umgehen sollten. Mindestens 1.200 europäische IS-Angehörige, unter ihnen schätzungsweise über 100 aus Deutschland, befinden sich seit der Niederlage des Kalifats in kurdischen Inhaftierungslagern in Syrien. Nichtregierungsorganisationen kritisieren die desaströsen Lebens- und Haftbedingungen in den überfüllten, provisorischen Lagern, insbesondere für Frauen und Kinder, welche die Mehrheit der Inhaftierten sind. Viele von Ihnen haben bereits öffentlich darum gebeten, sich in Deutschland vor Gericht verantworten zu dürfen.

Für und wider der Repatriierung europäischer IS-Mitgliedern?

Trotz vereinzelter Rückholaktionen gibt es in Berlin, Paris und Brüssel viel politischen Widerstand dagegen, alle verbliebenen europäischen IS-Mitglieder zurückzuholen. Hinzu kommen politische und diplomatische Hürden vor Ort.  Bedingt durch den Bürgerkrieg unterhält Deutschland – und viele andere europäische Staaten – keine konsularische Vertretung mehr in Syrien. Dies erschwert die Verhandlungen über eventuelle Rückführungen mit der kurdischen Selbstverwaltung in den ehemals vom IS besetzten Gebieten in Nordsyrien stark. Erschwerend hinzu kommen lokale Konflikte zwischen kurdischen Gruppen mit der türkischen und der syrischen Regierung.

Aus juristischer Sicht wäre eine Rückführung möglich. In den letzten Jahren wurden mehrere IS-Rückkehrer von deutschen Gerichten für ihre Verbrechen verurteilt. Eine Betrachtung ihrer Verfahren zeigt jedoch, welche großen Herausforderungen diese Prozesse für die Straffverfolgungsbehörden und die Justiz darstellen. Daraus ergeben sich begründete Bedenken, ob der deutsche Rechtstaat alle vermeintlichen Terroristen überführen könnte oder ob in einigen Fällen IS-Angehörige aus Mangel an Beweisen strafffrei davonkommen würden. Außerdem bleibt das bereits erwähnte Restrisiko für die öffentliche Sicherheit, welches eine zusätzliche Belastung für die Sicherheitsbehörden darstellen würde.

Repatriierung als Chance zur Aufarbeitung des Kalifat

Neben allen politischen und Sicherheitsbedenken ist jedoch nicht zu vergessen, dass eine Rückholung und Verurteilung der verbleibenden IS-Mitglieder in ihren Herkunftsstaaten eine große symbolische Bedeutung hätte. Hierdurch könnten Deutschland und seine europäischen Nachbarn die betroffenen Staaten im Nahen Osten bei der Aufbereitung der Verbrechen des Kalifats unterstützen. Ähnlich wie bei der Aufarbeitung der Völkermorde in Rwanda und dem ehemaligen Jugoslawien könnte auch ein internationaler Strafgerichtshof für diese Verfahren eingerichtet werden. Vor dem Hintergrund der genannten politischen Komplikationen und Sicherheitsbedenken ist eine groß angelegte Rückholaktion in näherer Zukunft jedoch eher unwahrscheinlich.

Eine große Herausforderung für die öffentliche Sicherheit

Breite Einigkeit bestand darüber – sowohl im Publikum sowie unter den Panelisten – dass Dschihadismus eine große Bedrohung für die öffentliche Sicherheit in Deutschland und im Ausland darstellt und dies auch in Zukunft bleiben wird. Selbst in Zeiten des Ukrainekrieges und einer neuen Ost-West-Konfrontation darf unsere Gesellschaft diese Herausforderung nicht aus den Augen verlieren.

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